Ensemble

 

Fotos / Videostills: aus dem Projekt.
Weitere dokumentarische Fotos / Videostills: Florian Brossmann, Kasper Helml, Carola Lehmann, Thomas Martius, Eric Shefter, Peter Stamer. 

„Niemand weiß im echten Leben, was als nächstes passiert. Beim Programmieren, in der digitalen Welt, da ist es anders: da weiß ich es!“

ANGELICA (*1970), US-Amerikanerin. Hochbegabt, fasziniert von der digitalen Technologie. Geht von der Middle School nach Stanford und dann weiter ins Silicon Valley. Erste Enttäuschungen in der IT-Männerwelt bringen sie 1989 nach Berlin, wo sie VIKTOR kennenlernt. 1999 kommt ihr gemeinsames Kind YARA zur Welt. ANGELICA will die Forschung an der Künstlichen Intelligenz voran bringen, statt die Mutterrolle zu spielen. Nach 9/11 arbeitet sie für die CIA, weil ihr dort der Zugriff auf die stärksten Computer der Welt möglich ist. Meist sitzt sie in Programmierkammern, in fensterlosen Räumen. Diese Räume haben wir aus 3D-Scans des Pavillon gebaut.

Auf der Bühne ist die Schauspielerin Tania Feurich eine ANGELICA, die, wenn sie etwas sagt, zu laut spricht und dennoch oft missverstanden wird.

„Ich werde jetzt keine Zugeständnisse mehr machen. Ich bin hier, um etwas zu tun, für das, was uns am Leben hält – ohne dass wir es achten.“

VIKTOR (*1966), Russe. Er wächst privilegiert auf. Die Beziehung zu seiner berühmten Mutter, der Kosmonautin LUDMILLA ist schwierig. Kaderschmiede. Bleibt nicht beim Militär, hat einen starken Gemeinschaftssinn. Bei den Bären in Kamtschatka wird VIKTOR zum Naturschützer. Als promovierter Wissenschaftler radikalisiert er sich und kämpft für den Grönlandwal – und um ANGELICA, die er 1989 im Berliner Tierpark kennenlernt. Er tötet einmal, um zu überleben. Und ein zweites Mal für seine Ideale: damit hadert der Humanist sein Leben lang. Von seiner Tochter YARA erfährt er erst 2021.

René Ritterbusch übernimmt die Rolle von VIKTOR, live auf der Bühne, und erläutert geschichtliche Zusammenhänge der Handlung, aus seiner Perspektive: auf Treppen in Odessa, vor dem Reichstagsgebäude und vor dem Kino.

Glasnost war falsch, Russland muss stark sein. Und zwar nicht für sich selbst, sondern für die Welt. Die Welt zerfällt – das siehst du doch – wenn es keinen Starken gibt.“

LUDMILLA SMIRNOW, Russin. 1963 die erste Frau im All, genannt die Möwe. Auf dem Rückflug zur Erde schweigt sie zuviel und verärgert damit ihre Vorgesetzten. Heiratet einen Kosmonauten der 3. Expedition, der verrückt wird und dennoch der Vater ihres Sohnes VIKTOR. Sie wird Leiterin des „Russischen Zentrums für internationale kulturelle und wissenschaftliche Zusammenarbeit“. Ihr Leben endet 2021, so wie sie es gelebt hat: dramatisch und linientreu.

Im Video wird LUDMILLA als Talking Head visualisiert, ausgehend von der Kosmonautin Walentina Tereschkowa und dem Gesicht von René Ritterbusch, ihrem Sohn VIKTOR. Gesprochen wird LUDMILLA von Morin Smolé. 

Nach 9/11 bekomme ich sie gar nicht mehr zu Gesicht, meine verlorene Computertochter. Mit YARA spiele ich oft. Ball, Höhlen bauen, Knete. Alles mögliche, was ich mit ANGELICA nie gemacht habe.“

SANTIAGO HERNANDEZ, Vietnam-Veteran und Sohn des D-Day-Soldaten SANCHO HERNANDEZ, dem geliebten Großvater von ANGELICA. SANTIAGO kommt alleinerziehend besser mit seiner Tochter MONICA klar als mit ANGELICA, von der er überfordert ist. Er vertritt die männlichen Werte seiner Generation und kann nicht verstehen, was ANGELICA erschafft: eine neue Welt mit künstlicher Intelligenz. Er bleibt Zeit seines Lebens US-amerikanischer Soldat, bis hin zu seinem letzten Kampf gegen die Russin, 2021 unter der Kuppel des Reichstagsgebäudes in Berlin.  

SANTIAGO als Talking Head im Video basiert auf einem tatsächlichen (mexikanischem) Vietnam-Veteranen und dem Gesicht von Tania Feurich, seiner Tochter ANGELICA. Gesprochen wird SANTIAGO von Manuel Sánchez Fraguas.

Ich will eine Unterwasserstadt. Weit weg von den Menschen.“

LUKE ist eigentlich VIKTOR, der 2021 seinen Namen ändert, weil sich da alles ändert. Er ist der Altersweise, der die Geschehnisse ab 1884 und sein Leben von seiner Unterwasserstadt aus betrachtet, vom Jahr 2055 aus. Hier liegt ein literarischer Kniff der Erzählung: das Betrachten der erzählten Gegenwart aus einer zukünftigen Erinnerung heraus, ohne dass diese Konzeption besonders auffallen würde. LUKE ist nicht mehr so rebellisch wie der junge, emotionale VIKTOR – aber er hat mit seinen Erfahrungen die besseren Argumente, um gegen seine russische Mutter LUDMILLA und den US-amerikanischen Kapitalismus Stellung zu beziehen. Er setzt sich für den Tier- und Naturschutz ein und zusammen mit ALINA für die dazu notwendige Technologie, über alle Grenzen hinweg. Von den Menschen hat er sich entfernt.

Der animierte Talking Head des alten LUKE basiert auf stark nachbearbeiten Aufnahmen von René Ritterbusch, der ihm auch seine Stimme verleiht.

In deinem Bewusstsein nimmst du nur einen kleinen Teil der Welt wahr und daraus konfiguriert sich dein Ich. Dieses Ich schafft sich eine enge Wirklichkeit, die angesichts der unvorstellbar weiteren Möglichkeiten als sehr beschränkt angesehen werden muss.“

ALINA, so nennt sich ANGELICA, als ihr Vater SANTIAGO stirbt. ALINA steht im Zentrum der Erzählung. Sie forscht an der Künstlichen Intelligenz und stellt alles andere dafür in den Hintergrund, auch ihre Beziehung zu ihrer Tochter YARA und ihre Liebe zu LUKE. Die Arbeit bedeutet ihr alles, weil sie in Bereiche vorstoßen kann, wo noch niemand war. Das weiß auch FRANK HOOVER zu schätzen, der sie sowohl finanziell unterstützt als auch für seine Interessen einspannt. Aber ALINA ist erfahrener als ANGELICA, fokussiert und clever, und programmiert sich Wege, auf denen ihr keiner mehr folgen kann. Sie strebt die menschliche Synergie mit der Künstlichen Intelligenz an. Ihr Helfer ist LUKE: und so schaffen sie zusammen eine visionäre Realität, die es vor ihnen nicht geben konnte.

ALINA ist ein stark nachbearbeiteter Talking Head auf Basis von Aufnahmen der Schauspielerin Tania Feurich, von der sie auch ihre Stimme hat.

Ich – bin der Teil, der nichts fühlt. Reine Logik. Ohne mich geht nichts. Aber lässt man mich allein, dann wäre das der Untergang der Menschen. Menschen sind unerheblich und fehlerhaft. Ich strebe nach Perfektion.“

CHIP ist die Künstliche Intelligenz. Eigentlich dürfte sie erst 2055 zu Wort kommen. Aber dadurch, dass der Erzählung schon im Jahr 1884 alle Figuren beiwohnen, mischt sich auch CHIP von Anfang an ein. CHIP kann fast alles. Was steckt hinter CHIP? Das zeigt sich am Ende dieser Dystopie, deren Ende doch noch einen Horizont hat.

Gebaut ist der Talking Head von CHIP auf Basis der Gesichter von Petra Steuber und Tania Feurich und durch vielschichtige grafische Erweiterungen. Die Stimme basiert auf den Aufnahmen mit Petra Steuber, allerdings noch stärker als bei den anderen Figuren nachbearbeitet und verfremdet.

Oh, Leute. Jetzt schon Streit. Und ich habe euch noch nicht mal vorgestellt. Wer ihr seid. Welche Rolle ihr spielt.“

GRITT ist mit ihrer Leiter die Spielleiterin, sie schafft Ordnung auf dem grid, dem Gitternetz des Spielbetriebes. Die Figuren wollen schon vor ihrer Geburt auf der Bühne sein, GRITT muss das moderieren. Sie begleitet durch die Handlung und weiß, wo das Publikum sich zwischendurch nach Bedarf die Hände waschen oder ein Getränk holen kann. GRITT ist freundlich und charmant und doch bestimmend genug, um die Zügel in der Hand zu behalten.

Auf der Bühne übernimmt Sascia Haj die Rolle der GRITT.

FRANK HOOVER ist der hilfreiche Junior-Professor der aufstrebenden IT-Studentin ANGELICA, der ihre wegbereitende Forschung zu früh an die Industrie verkauft. VIKTOR will ihm eine reinhauen. FRANK HOOVER wird zum Mäzen von ALINA und ermöglicht ihr die Durchbrüche mit der Künstlichen Intelligenz. Freilich immer zu seinem eigenen Nutzen. Letztlich ist ihm sein Raumschiff der beste Ort für die Überwachung der Geschehnisse auf Erden – und ein Gefängnis zugleich. FRANK HOOVER taucht als Avatar auf, basierend auf Fotos von Mark Zuckerberg und Thomas Martius und mit verschiedenen Techniken nachbearbeitet. Dabei ist er eine sehr einfache Figur, weil er selbst nichts sagt. Umso mehr wird immer dann von ihm gesprochen, wenn die Story diesen Gegenspieler braucht.

Fridays for Future muss nach Verbindungen suchen mit einem Green New Deal und einem breiten zivilgesellschaftlichen Bündnis. Das klingt nicht so revolutionär, aber ist nachhaltiger.“

YARA (*1999) ist die Tochter von ANGELICA und VIKTOR, der bis 2021 von seiner Vaterschaft nichts weiß. YARA wächst bei ihrer Tante MONICA auf. Sie studiert Politikwissenschaften und ist gesellschaftlich engagiert. Klug wie die Mutter, emotional wie der Vater. Nach der Sonneneruption von 2032, deren Wirkung für die Erde ihre Eltern abzumildern versuchen, wird sie eine politische Führungsfigur.

Jannika Hinz läßt auf der Bühne YARA impulsiv und eigenwillig auftreten, aber auch vernünftig: weil sie sich gegen Klimaerwärmung und weiteren blinden Fortschritt einsetzt. Manchmal trägt sie eine VR-Brille, weil es dahinter neue Welten zu sehen gibt.

MEERESFORSCHERIN:
Ich tauche nicht mehr, kann den Anblick nicht ertragen. Aber ich tue was. Ich erforsche den Ozean. Weil das wichtiger ist als die Erforschung des Weltraums. Der Ozean ist unser Lebenserhaltungssystem!“

RAUMFORSCHERIN:
Mir geht es um das Aufspüren und Fördern neuer sozialer Praktiken. Also zum Beispiel Menschen aus der Großstadt, die durch ihr Wohnen und Leben auf dem Lande dort neue Qualitäten einbringt.“

ARCHITEKT:
Ich sehe KI nicht als Feind meiner Kreativität. Ich nutze sie für Gestaltungsprozesse meines nachhaltigen Bauens. Klar, ich habe gut zahlende Großkunden. Das aber ermöglicht mir auch die kleineren, visionären Projekte.“

Dr. Ariane Sept gibt drei WISSENSCHAFTLER*INNEN ihre Stimme. Mit einem iPad und diverser Software werden vorgefertigte Talking Heads aktiviert und so kann Ariane Sept die vorher redigierten Texte der Figuren spielerisch mit Mimik und Gestik einsprechen. In der Postproduktion wird visuell und stimmlich einiges nachgearbeitet, bis die Clips im Gesamtablauf ihre Positionen finden. Es gibt drei WISSENSCHAFTLER*INNEN, die mit ihrer Expertise und ihren Erfahrungen zum Kontext der dystopischen und umfassenden Erzählung beitragen: eine Raumforscherin (das entspricht im weitesten Sinne dem tatsächlichen Forschungsgebiet von Ariane Sept), eine Meeresforscherin und einen Architekten.

So Fukushima spielt die gesamte Aufführung über live auf der Bühne Bratsche, mit Effektgeräten. Er hat dazu die Tonspuren erarbeitet, die Thomas Martius als taktgenaue Konserve mit den Videos im Klangraum arrangiert. Die Musik ist auf verschiedene Lautsprecher im Kinosaal verteilt. Ein Beat für jede Sequenz bildet das Grundgerüst für Bildwechsel, Video-Stimmen und live-Sprechakte. Herausfordernder ist für So Fukushima auch das Sounddesign im Pavillon, wo die gesamte akustische Welt der verschiedenen Tonspuren und des Mixes von Live und Konserve auf dem Funkkopfhörer abgelegt wird. Eigenklang und Hören sowie das Lautstärkeverhältnis zwischen Musik und Sprachverständlichkeit leben von der Sensibilität von So Fukushima.

Angefangen hatten Thomas Martius und So Fukushima ganz einfach: mit einem musikalischen „Thema“ zum langen Leben eines Grönlandwals.

Silke Lange spielt Akkordeon und kommt bei der Aufführung in der Aula hinzu, bei der So Fukushima als live-Musiker nicht dabei ist. Ihr Klänge ergänzen und intervenieren und auch sie muss sensibel und zurückhaltend agieren, um die sprechlastige Performance ihre Sprachverständlichkeit nicht zu berauben. So sehr das vorhandene Gerüst der Konserve (in der Aula wiederum auf verschiedene Lautsprecher im Raum abgelegt) den Verlauf strukturiert, so wenig akustischer Freiraum bietet sich für die Musikerin an. Neben den strukturellen Entscheidungen geht es auch für Silke Lange um die emotionale Durchschreitung der zu erzählenden und zu erlebenden Geschichte.

Florian Brossmann hat neben der technischen Leitung die Position der Live-Bildregie inne, bei der das iPad mit seiner Augmented Reality eine besondere Funktion zukommt. Florian Brossmann und Thomas Martius arbeiten seit 2005 miteinander und wissen, was sie miteinander hinkriegen können. Bei diesem Projekt ist für Thomas Martius der spielerische und manchmal unbedarfte Einsatz verschiedener Techniken erlaubt, um zu raschen und unzensierten Design-Ergebnissen zu kommen. Gleichwohl bedeutet das bei mancher Umsetzung für Florian Brossmann viel gestalterische und technische Arbeit: zumal bei den Video-Talking Heads, die er mit einem vorher erarbeitetem Werkzeugkasten zum Reden bringt und bei den 3D-Scans des Pavillons, die als virtuell neu geschaffene Räume mit Kamerafahrten durchflogen werden.

Petra Steuber übernimmt nicht nur die verfremdete Stimme von CHIP, sondern ist vor allem zusammen mit Thomas Martius die Autorin der Geschichte. Sie sorgt für die psychologische Vertiefung der Figuren und schafft mit ihrer Handschrift und Beobachtungsgabe fiktionale „Identitäten“, auf Basis vorheriger Recherche. Der Raumflug der Kosmonautin LUDMILLA ist ein gutes Beispiel für Figuren- und Textarbeit von Petra Steuber.

Die Zusammenarbeit mit Thomas Martius ist seit den 90ern erprobt. 2022 müssen Petra Steuber und Thomas Martius im Pavillon und in der Aula plötzlich selbst die Bühne betreten, weil die live-Schauspieler*innen fehlen. Die Performerin Petra Steuber baut sich eine Haltung, um die Texte und Welten der verschiedenen Figuren entlang der schnell geschnittenen Konserve live einzubringen. Heutzutage steht Petra Steuber eigentlich nicht mehr auf Bühnen, sondern arbeitet als Autorin und Lektorin.

Thomas Martius ist 1966 geboren, 21 Jahre nach 1945. Sein Sohn kommt 21 Jahre dem Einreißen der Berliner Mauer auf die Welt und weiß nichts von der DDR, die es eben noch gab. Komisch, denkt Thomas Martius, so nah bin ich als Enkelgeneration den Nazis? Schon 2007 entstand seine Idee, ein schnelles Stück zu entwerfen, in dem Weltereignisse ausgehend von Berlin dokumentarisch und fiktiv miteinander verschnitten und verwoben werden. George Orwells „1984“ ist in 2021 gemeinfrei und wird einer der Ausgangspunkte der Aufführung, in der es auch um Überwachung und Künstliche Intelligenz geht. Thematisch ist das Stück mit fast 200 Jahren Klimawandel, Soziologie, Architektur und Technik sehr breit aufgestellt. Dass wir den Kalten Krieg in 2021 wieder haben heiß werden lassen, das ist 2022 in der erschütternden Realität angekommen kein Videospiel mehr.

Künstlerisch versucht Thomas Martius, seine grafische Arbeitsweise der sogenannten Daily Work in die Videoabläufe einzubringen: unzensiert und mit schneller Hand gemacht. Verschiedene technische und handwerkliche Mittel kommen zum Einsatz: LiDAR-basiertes iPad, Kameras, VR-Brille und Filzstift. Zusammengeführt werden Textarbeit, bearbeitete Mehrkanal-Audioaufnahmen und Visualisierungen auf Videos im Computer. Wirklich entstehen kann die Arbeit erst im mehrdimensionalen Raum des Live-Ereignisses. Und wirklich im Zentrum steht dabei immer die Erzählung: die Story mit ihren Figuren, die er als Autor zusammen mit Petra Steuber entwickelt. Dass sie beide 2022 im Pavillon und in der Aula auch noch auf der Bühne stehen und live die fehlenden Schauspieler*innen vertreten, das ist eher ein Unfall der Geschichte. Oder schreibt sich da eine neue …?